Wort des Bischofs zum 1. Januar 2025
gekürzte Leseversion

Liebe Schwestern und Brüder!
I. „Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den
Menschen.“ Diese Worte schrieb Dietrich Bonhoeffer im Mai 1944. Bonhoeffer kämpfte
leidenschaftlich gegen den Nationalsozialismus und wurde ein knappes Jahr später wegen seiner
aktiven Rolle im Widerstand gegen das Hitler-Regime ermordet. Im Gefängnis dachte er viel über das Christsein nach und hinterließ wegweisende Gedanken.
Beten und das Gerechte tun unter den Menschen – dieser Anspruch an Christinnen und Christen ist auch heute noch aktuell: zutiefst an Gott glauben, mit ihm betend verbunden sein und im Alltag Gerechtigkeit und Liebe leben. Wenn wir dies beherzigen, können wir auch in Zukunft eine wichtige Stimme und handelnde Kraft in unserer Gesellschaft sein.
Das Christentum hat in den letzten Jahren dramatisch an Bedeutung verloren, und wir müssen uns darauf einstellen, als kirchliche Gemeinschaften immer kleiner zu werden. Da kann es helfen, sich an Bonhoeffers Gedanken zu erinnern, mit denen er zu einem Neuanfang des Christentums ermutigen wollte – zu einer Rückbesinnung auf das, was das Christsein im Kern auszeichnet.
Vor einem Neuanfang stehen wir in den kommenden Jahren tatsächlich. Die sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat wissenschaftlich untermauert, was viele von Ihnen im Alltag erleben: Eine immer größer werdende Zahl von Menschen in unserem Land lebt ganz
selbstverständlich ohne Gott. Sie brauchen keine Religion, keinen Glauben und schon gar keine
Kirche. Sie sind glücklich und zufrieden. Sie führen oft ein erfülltes Leben – und sind dabei
keineswegs egoistische Menschen.
Ich kenne viele solcher Menschen aus meinem privaten Umfeld; und sie begegnen mir auch als
Bischof in zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen. Auch Ihnen, liebe Schwestern und Brüder,
werden meine Beschreibungen nicht unbekannt sein. Die schleichende Entfernung von Gott und der Kirche ist allgegenwärtig. Für uns, die wir nach wie vor aus Überzeugung an Gott glauben und uns der christlichen Tradition verbunden wissen, ist das nicht leicht auszuhalten.


II. Dennoch sollten wir als Christinnen und Christen sowie als Kirche sehr ernst nehmen, was in der Welt, in der wir leben, geschieht. Gerade die Phänomene, die uns herausfordern, in Frage stellen oder2 und in die Tat zu bringen, dass die Menschen von heute das verstehen und nachvollziehen können. Diese Auseinandersetzung mit unserem Glauben müssen wir führen. Dazu gehört es, die Anfragen und die ablehnenden Positionen der Menschen um uns herum anzuerkennen und aufzugreifen. Vielleicht werden wir auf diese Weise im Dialog mit den Nicht-mehr-Glaubenden manches entdecken, was wir an Fragen auch in uns selbst wahrnehmen. Zu einem gefestigten, selbstbewussten Glauben gehört es, sich diesen Fragen und Zweifeln zu stellen. Sie merken, dass ich weit davon entfernt bin, in Klagelieder einzustimmen über einen angeblichen Verfall des Christentums. Die Welt ist, wie sie ist – und sie hat sich in ihrer gesamten Geschichte stets verändert. Das Christentum und die Kirchen sind dabei niemals stehen geblieben.
III. Darum ermutige ich Sie und mich, die Wirklichkeit von heute anzunehmen und darin auch die
Zeichen zu erkennen, mit denen Gott uns zur Neubesinnung und Veränderung inspirieren will. Dafür ist es wichtig, sich zunächst des eigenen Glaubens zu vergewissern und wahrzunehmen, was für das eigene Leben trägt: Der Glaube an den liebenden Gott, wie ihn Jesus gelebt und verkündet hat, ist ein starkes Fundament.
Zu wissen, dass ich von Gott gewollt, geschaffen und geliebt bin, verleiht ein positives
Selbstwertgefühl, um das Leben trotz aller Ungewissheiten, aller Widrigkeiten und aller schwierigen Erfahrungen zu bewältigen. Die Liebe Gottes bewirkt dazu eine Haltung der Nächstenliebe, der Mitmenschlichkeit und Solidarität, die die Welt von heute so dringend braucht. Der christliche Glaube ist also ein großer Schatz – und das ist auch vielen Christinnen und Christen anzumerken, die nach wie vor an etlichen Orten Gutes und Großes bewirken.

IV. Ich bin davon überzeugt, dass unser Weg als Kirche heute ein anderer sein muss als in
vergangenen Zeiten. Menschen, die heute nach Gott fragen, bestimmen ihre Haltung zu Gott und zur Religion freier und eigenständiger als die Menschen früherer Generationen. Wer heute Jesu Ruf in die Nachfolge hört, wird die Kraft dafür, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, nicht mehr aus
anerzogenen Lehren, formelhaften Bekenntnissen und vorgegebenen Lebensvorschriften gewinnen. Wir sollten als Glaubensgemeinschaft deshalb zuerst danach suchen, was die Faszination des Rufes Jesu im Tiefsten ausmacht.
Jesu Botschaft, dass Gottes Reich nahe ist, hat mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft zu tun, mit einem liebevollen Miteinander, mit einem solidarischen, geschwisterlichen Zusammenleben.
Christentum und Kirche überzeugen gerade dort, wo Solidarität und Liebe gelebt werden, wo
Menschen sich füreinander einsetzen, wo ein Geist des Verstehens und der gegenseitigen Hilfe zu
spüren ist. Christsein bedeutet, für andere da zu sein, hat Dietrich Bonhoeffer gesagt und damit zum Ausdruck gebracht, was es vor allem bedeutet, das Gerechte zu tun.
Natürlich beschränkt sich Christsein nicht allein auf das karitative Tun. An erster Stelle steht ein
Versprechen: Unser irdisches Leben ist nicht alles. Es gibt Leben über den Tod hinaus. Jede und jeder von uns hat eine unendliche Bedeutung, wird Leben finden, auch dann, wenn die irdische Zeit vorbei ist. Das verschafft Gelassenheit und Hoffnung. Wir Menschen werden in dieser Welt nicht alles vollbringen können, und auch unser Einsatz gegen Unheil und Tod bleibt fragmentarisch.
Unser Glaube aber verheißt, dass der uns unbedingt liebende Gott am Ende das schafft, wozu wir
Menschen niemals ganz in der Lage sein werden: Gerechtigkeit und Versöhnung. Wer diesem Gott
sein Vertrauen schenkt, sieht die Welt, das Leben und die Menschen mit anderen Augen – und kann anders leben und handeln, liebevoller, gelassener, solidarischer und vertrauensvoller.
Es braucht ein neues Verständnis von religiöser Verkündigung, aus dem unmittelbar deutlich wird,
welche Wirkung der Glaube auf das konkrete Verhalten und Zusammenleben hat. Und zugleich
braucht das soziale und karitative Handeln die Verwurzelung im Gottesglauben, damit es von einer tiefen Liebe und einer über den Tod hinausgehenden Hoffnung geprägt sein kann. Ein christliches Verständnis von Glauben und Solidarität verbindet das Religiöse und das Soziale. Wenn wir beim Tun des Gerechten nicht mehr wissen, weshalb wir es tun, verlieren wir unsere christliche Identität.
V. In den kommenden Jahren stehen wir in unserem Bistum vor einem großen Umbruch, mit dem wir eine Antwort geben wollen auf die gesellschaftlichen Veränderungen. Unter dem Leitwort „Christlich leben. Mittendrin.“ stellen wir uns darauf ein, dass die bisherige Gestalt der Kirche nicht erhalten werden kann.
Es geht darum, in einer überwiegend säkularen Welt den christlichen Glauben als eine Option
anzubieten. Das wird nur gelingen, wenn wir auf allen Ebenen zusammenrücken, um unsere Kräfte so effizient wie möglich zu bündeln. In allen Städten und Kreisen unseres Bistums kann auf diese Weise eine katholische Kirche zusammenwachsen, die sich in großer Pluralität an unterschiedlichen Orten für unterschiedliche Menschen öffnet.
Es geht darum, das Besondere und Einzigartige der christlichen Botschaft in unserer Zeit so erfahrbar zu machen, dass sich Menschen weiterhin davon angesprochen fühlen. So können und sollen neue Formen christlichen Lebens entstehen, die wir heute noch gar nicht kennen.
Kirche darf nicht Druck und Last bedeuten für diejenigen, die sich engagieren. Kirche soll ein Ort sein, an dem Menschen mit Lust und Begeisterung leben und wirken – inspiriert und angetrieben von dem, was sie glauben und was sie innerlich trägt. Deshalb werbe ich auch für Gelassenheit: Wir müssen nicht die ganze Welt missionieren und für eine bestimmte Form kirchlichen Lebens
gewinnen. Lassen Sie uns unser gemeinsames Christ- und Kirche-Sein so verstehen und leben, dass das Evangelium eine Einladung für alle Menschen ist.
Der Weg der Kirche von heute ist kein Weg langfristiger Gewissheiten, universeller Lösungen und
unabänderlicher Strukturen. Papst Franziskus beschreibt ihn als einen „Weg der kleinen Schritte.“
Lassen Sie uns gemeinsam diesen Weg der kleinen Schritte in diesem neuen Jahr 2025 weitergehen und mit der nötigen Gelassenheit und Zuversicht für ein Christentum einstehen, das auch in unserer säkularen Zeit eine gute Zukunft haben wird – im Vertrauen auf den Heiligen Geist, mit dem Gott uns alle auf unseren Wegen stärkt. Seine Gaben und sein gutes Geleit erbitte ich Ihnen, Ihren Familien und allen Menschen, mit denen Sie leben.

Mit herzlichen Grüßen und allen Segenswünschen
Ihr
Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen